Der wilde Osten Sardiniens

...für Outdoorfans, Individualisten und aktive Familien


Die Transhumanz in Sardinien




Was ist eigentlich die Transhumanz?


Alter Brauch und neue Chance
5 Fakten zum saisonalen Viehtrieb der sardischen Hirten


Am 11. Dezember 2019 wurde die Transhumanz von der UNESCO offiziell als so genanntes „immaterielles Kulturerbe“ anerkannt. Zu dieser Kategorie gehören gelebte regionale Traditionen, d.h. lokales Wissen, Bräuche, aber auch Handwerkstechniken, die geschützt und dokumentiert werden sollen, um die Öffentlichkeit für die Bedeutung dieses Erbes zu sensibilisieren.

Der Nominierung vorausgegangen war ein längerer internationaler Bewertungsprozess, der im März 2018 mit der Antragstellung in Paris begann. Initiator für die grenzüberschreitende Nominierung war Italien, mit im Boot aber auch Österreich und Griechenland. Sardinien mit seiner jahrtausendealten Geschichte in Sachen Wanderweidewirtschaft setzte sich von Anfang an für die Anerkennung der Transhumanz als Weltkulturerbe ein.

Ziel ist nun zunächst einmal, die allen gemeinsame Tradition des Viehtriebs im Mittelmeerraum und in den Alpen international sichtbar zu machen und das sukzessive Verschwinden dieses Brauchs ins Bewusstsein zu rücken. Zukünftig sollen die alten Wege und die Tradition der Transhumanz aber auch genutzt werden, um in strukturschwachen Gegenden über entsprechende Unterstützung eine Art neues Wirtschaftsmodell im Bereich nachhaltiger Tourismus für ländliche Gebiete entstehen zu lassen.

Eine erste Initiative wurde im Oktober 2019 mit dieser Transhumanz-Wanderung in Arzana gestartet: Beispielhaft ist hier zu sehen, wie interessierte Einheimische und Touristen gemeinsam mit dem Schäfer und seiner Herde auf den alten Viehtrieb-Wegen unterwegs sein können.



Wortbedeutung

Der zunächst etwas sperrige Begriff „Transhumanz“ lässt sich aus dem Lateinischen und dem Französischen hergeleitet mit „wandern“ bzw. „wandern von Herden“, aber auch „jenseits der bebauten Erde“ oder gar „transportieren“ umschreiben. Gemeint ist damit eine spezielle Form der Wandertierhaltung, ein Viehtrieb.

Auf Sardisch heißt die Transhumanz „sa tramuda“. Die Wege der Transhumanz sind im Italienischen die „tratturi“, im Sardischen die „andalas“ oder „caminus“ mit jeweils lokaler Sprachfärbung.


Was versteht man nun aber genau unter „Transhumanz“?

Allgemein gesprochen wird die Transhumanz als bäuerliche Wirtschaftsform bezeichnet, bei der das Vieh von Hirten zu entfernten Sommerweiden gebracht wird – ein klimabedingter, saisonaler Viehtrieb zwischen Bergen und Tal. Wobei Sardinien hier eine Sonderform praktiziert. Doch dazu weiter unten mehr.

Grund für den Wechsel zwischen den in verschiedenen Höhenstufen liegenden Weidegebieten ist, dass diese nur während einer Jahreszeit ausreichend Futter liefern. In der Regel weiden die Herden in der kalten Jahreszeit in der Nähe der dauerhaften Unterkunft des sesshaften Eigentümers, um dann im Sommer auf höher gelegene Weideplätze getrieben zu werden. Nicht zu verwechseln mit der Weidewirtschaft der Nomaden, die ganzjährig und ohne festen Wohnsitz mit ihren Herden unterwegs sind. Im Unterschied zur Almwirtschaft wird das Vieh bei der Transhumanz nicht eingestallt und weidet meist auf nicht eingehegtem Land. Diese Form der Landnutzung wird Pastoralismus oder Naturweidewirtschaft genannt.

Die saisonale Wanderung der Herden – in Begeleitung von Hirten mit Hunden, manchmal auch mit Packeseln und Pferden – kann einige Stunden dauern, aber auch mehrtägig sein. Dann wird meist an  vorher festgelegten und tradierten Orten, wo bereits Schäferhütten und einfache Pferche für die Tiere entstanden sind, Halt gemacht. In Sardinien unterscheidet man zwischen kurzer, langer und großer Transhumanz. So gilt z.B. der Viehtrieb der Hirten von Arzana von den Bergen des Gennargentu hinunter in die Ebene von Tortolì als lange Transhumanz. Teilweise ging die Transhumanz aber auch über mehrere Tage, z.B. von Gavoi oder Fonni bis in die Ebenen bei Oristano oder Olbia. Bekannt durch wissenschaftliche Arbeiten ist auch die große Transhumanz von Seulo nach Dolianova bei Cagliari (ca. 100 km).

So viel zu den theoretischen Hintergründen und Rahmenbedingungen.




Was bedeutet die Unesco-Anerkennung aber für Sardinien?

Und welche Rolle spielt die Transhumanz
auf der Insel – damals und heute?



Viele Schafe
Zunächst einmal ist Sardinien in Italien die Region mit den meisten Schafen. 40 Prozent aller italienischen Schafe sind auf der Insel zuhause – insgesamt rund 3,5 Millionen Tiere. Damit leben in Sardinien doppelt so viele Schafe als Menschen. Sardinien ist außerdem Nr. 1 im gesamten Mittelmeerraum was die Weidehaltung der Tiere angeht. Weit über 50 Prozent der Inseloberfläche wird beweidet. Die Tiere ernähren sich zu 80 Prozent von Weidefutter, was wiederum die Milch- und Fleischqualität entscheidend beeinflusst und außerdem die ganz spezielle sardische Kulturlandschaft geformt hat.


Ein Blick in die Geschichte
Die transhumante Hütehaltung war in den Gebirgsländern des Mittelmeerraums bis ins 20. Jahrhundert weit verbreitet. In Italien wird sie neben Sardinien heute noch in Mittel- und Süditalien, aber auch im Alpenraum praktiziert. In Sardinien ist es die Provinz Nuoro mit den Gebirgszügen von Gennargentu und Supramonte und insbesondere die Ogliastra, wo auch heute noch einzelne Hirten in einigen wenigen Dörfern zur Transhumanz aufbrechen.
Die Wanderweidewirtschaft geht auf die jahrtausendealte Kultur und (halb)nomadische Lebensform der Hirtenvölker zurück. In Sardinien war sie schon zu Zeiten der Nuragher üblich. Dies belegen Ausgrabungen und vor allem auch das Studium der kleinen Bronzefiguren, die entsprechende Szenen aus dem Hirtenalltag zeigen. Bereits damals entstanden an den Rastplätzen der Herden entlang der Transhumanz-Routen nach und nach erste Siedlungen. Aber auch zahlreiche sardische Dörfer neueren Datums haben ihren Ursprung in der Transhumanz-Bewegung.

Die Transhumanz war Medium für Kommunikation und Wachstum. Sie war Öffnung nach außen, wirtschaftlicher Austausch, Austausch von Ideen und Mentalitäten. Und sie verband Menschen, die sich sonst nie begegnet wären. Während der Transhumanz entstand über Jahrhunderte und Generationen hinweg ein enges Geflecht an wichtigen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Beziehungen zwischen den wandernden Hirten und den Dörfern entlang der Wege und am Zielort des Viehtriebs. „Dank der Transhumanz und dem Austausch mit den Dörfern in der Ebene ist Desulo gewachsen“, beschreibt ein Schafhirte, der die Transhumanz noch als Kind kennengelernt hatte, hier dieses Phänomen.

Es darf aber nicht vergessen werden, dass der alljährliche Viehtrieb nicht immer ausschließlich harmonisch ablief. Schon immer sorgte die Transhumanz auch für jede Menge Ärger und war zuweilen ziemlich konfliktgeladen. Gerade auf den längeren Viehtrieben mussten Grenzen anderer Dörfer und Provinzen passiert oder Privatbesitz überschritten werden. Da Acker- und Weideland überall existenziell wichtig, wertvoll und zudem knapp war, sah man die vorüber ziehenden Herden nirgendwo gerne. Dieser alte Konflikt zwischen Bauern und Hirten – der auch heute noch nicht ganz verschwunden ist – nahm an Brisanz zu, als um 1820 in Sardinien das Gesetz der „Chiudende“ verabschiedet wurde, das die Weiderechte für Hirten auf Gemeinde- oder Staatsgrund weiter einschränkte und den Privatbesitz vorantrieb. Über die Jahre haben sich viele Hirten dann Land in der Ebene gekauft, um Unsicherheit und Streit zu entgehen. Viele haben dort schließlich auch ihre Betriebe aufgebaut – oftmals das Ende der Transhumanz für diese Hirtenfamilie.




5 Fakten zum saisonalen Viehtrieb der sardischen Hirten

oder: Das Besondere an der Transhumanz in Sardinien


1  Die umgekehrte Transhumanz
In der Regel führt der saisonale Viehtrieb auf Grund von sommerlicher Trockenheit in der Ebene hinauf in höhere Lagen. Sobald dort das unwirtliche Wetter oder der Schneefall einsetzt und die Beweidung unmöglich macht, geht es wieder zurück ins Tal. Nicht so in Sardinien: Dort hatten die Hirten schon seit jeher ihre Heimat in den Bergen und trieben die Tiere im Herbst von den Futterplätzen nahe ihrer Dörfer hinunter ins Tal auf die Winterweiden, verbrachten dort fern ihrer Familie die kalte Jahreszeit, um dann im Frühjahr wieder nach Hause zurückzukehren.


2  Der starke Identitätsgehalt
Pastoralismus und Transhumanz sind tief verankert im sardischen Identitätsgefühl. Ablesen kann man dies rein äußerlich an vielen Ritualen, die ihren Ursprung im Hirtenalltag haben. Sie werden bis heute mit großer Selbstverständlichkeit und auch Stolz gelebt und weiter gegeben. Mittlerweile komplett losgelöst von der Transhumanz haben sie ihren festen Platz im Jahreslauf, bei Festen, traditionellen Gerichten und im täglichen Leben. Auch in der Kunst findet sich die Symbolik der Transhumanz überall wieder. Kein Wunder, schließlich war die Schafhaltung jahrtausendelang das Rückgrat der sardischen Gesellschaft und Wirtschaft. Bei der Transhumanz geht es also nicht nur um die reine Futtersuche für Schaf und Ziege, sondern um das vielschichtige historische Erbe der gesamten Insel.





3  Familienbindung
Immer wieder wird die Transhumanz als der schmerzhafteste Moment des Jahres erinnert und beschrieben. Die Männer mussten ihre Familie verlassen, die Frauen blieben alleine zurück mit Kindern, Haus und Hof sowie kleiner Landwirtschaft und man sah sich – zumindest bei der großen Transhumanz – über Monate nicht. Die starke Bindung zur Familie und innerhalb der Familie, die auch heute noch deutlich spürbar ist, war sicherlich einerseits emotionaler Natur, andererseits aber auch überlebenswichtig für die fernab ihrer Dörfer lebenden Hirten und die in den Bergen alleine zurück gebliebenen Ehefrauen. Auf die Familie war Verlass, man half sich in diesem Rahmen gegenseitig und konzentrierte sich ganz auf die eigene Existenzsicherung. Jegliche Form von Miteinander außerhalb der Familie wurde – und wird auch heute noch – eher skeptisch betrachtet. Vielleicht lässt sich dadurch auch erklären, warum es in Sardinien kaum Zusammenschlüsse für die gewinnbringende Milchverarbeitung vor Ort gibt und die Milch stattdessen zu Spottpreisen an Großmolkereien und aufs Festland verkauft wird.


4  Schwarz sehen
Egal, ob es nun regnete und schneite oder die Sonne vom Himmel brannte und alles austrocknete. Alles war immer gegen den Hirten gerichtet. Er kannte kein festes Haus, sondern war gezwungen, alleine mit seinen Schafen draußen in der Natur zu hausen, für ihn gab es keinen Sonntag und kein Fest, er wusste nicht, wo rasten und wo Futter finden für seine Tiere auf den Wegen fernab seiner Heimat. Der aus dieser Situation entstandene „Pessimismus des Hirten“, der hier benannt wird, ist tief in die sardische Seele eingebrannt. Bräuche wie die Transhumanz laufen schnell Gefahr, in verklärtem Bild und fokussiert auf deren traditionelle Bedeutung gesehen zu werden. Dabei wird vergessen, dass der sardische Hirte nicht aus Berufung auf Transhumanz ging, sondern aus existenzieller Notwendigkeit und somit aus Zwang. Der Hirtenalltag war hart und insbesondere der große Viehtrieb verlangte Mensch und Tier einiges ab. Auch die wenigen Hirten, die diesen Brauch heute noch pflegen, machen sich nicht wegen der Tradition – sie ist zwar emotionales Beiwerk, aber sicherlich nicht Beweggrund – sondern aus wirtschaftlichen Gründen auf den Weg.





5  Transhumanz heute
Es ist also nicht verwunderlich, dass sich die Spuren des traditionellen Schafwandertriebs in Sardinien nach und nach verlieren. Ende der 60er-/Anfang der 70er-Jahre verabschiedete sich ein Großteil der sardischen Hirten von der Transhumanz. Die Umstellung auf eine viel intensivere Viehwirtschaft hatte auch vor Sardinien nicht Halt gemacht. Stallhaltung in der Ebene, aber auch in den Bergen, Zufütterung von Heu und Getreide, Transport der Tiere mit Lkws, aber auch die Ausweitung der Landwirtschaft und die generell veränderten Lebensbedingungen haben dafür gesorgt, dass kaum jemand mehr mit seinen Tieren auf Wanderschaft geht. Die alten Wege verschwinden, werden vom Dickicht geschluckt. Und die Menschen, die sie noch kannten, werden nach und nach auch immer weniger. Aus einer alltäglichen Praxis, einer Lebensform ist Tradition geworden. Höchste Zeit also, wenigstens deren Überbleibsel zu bewahren und zu erinnern.

Dabei ist eines klar: Die Zeiten haben sich geändert. Wir können die Transhumanz nicht wieder zurück holen. Und das kann auch niemals das Ziel sein. Was uns aber heute noch von der Transhumanz bleibt, sind die Geschichten, die Bräuche, die noch immer im Alltag verankert sind, und herrliche Wege, die jede Menge zu erzählen haben und uns ein Sardinien entdecken lassen fernab der üblichen Routen. All das gilt es zu erhalten und sensibel und vorsichtig mit anderen Dingen zu verweben, die ebenfalls versteckt im Hinterland auf uns warten.

Wer auf diesen alten Wegen geht, die von den Hirten über Hunderte von Jahren genutzt und vom Vater an den Sohn weitergegeben wurden, kommt nicht umhin, sich Sardinien noch einmal auf ganz andere Art zu nähern und tief in die Vorgeschichte dieser Insel einzutauchen.























überarbeiteter Blog-Text / Insel.Traum.Leben. / 11. Dezember 2019 / copyright Christine Wolfangel